20. Dezember 2015

Ein Brief zum Jahreswechsel

Das Gemüsejahr 2015 ist nun beendet. Für unsere junge Solidarische Landwirtschaft hielt es viele aufregende „erste Male“ bereit: eine erste Überfülle vom Acker, eine erste Ebbe im Gemüsekorb, einen ersten Saisonwechsel, einen ersten Sommer-Anbau und schließlich im Herbst: ein erster Überblick über die tatsächlichen Kosten für die zwei zurückliegenden Anbau-Saisons.

Wir haben in der Steuergruppe seit Anfang September mit den und um die „richtigen“ Zahlen gekämpft, die nun im Großen und Ganzen eine klare Sprache sprechen: Für unseren Landwirt Mike war insbesondere die Sommersaison 2015 eine betriebswirtschaftliche Katastrophe.
Mike hat deutlich mehr als einen Vollzeitjob erledigt und trotz Lohnverzicht noch Verluste in Höhe von rund 13.000 Euro gemacht. Seitdem wir das in der Steuergruppe wissen, haben wir teils hitzige Debatten darüber geführt, wie es dazu kam, dass wir eines der wichtigsten Ziele unserer Solawi nicht erreicht haben: „Dem Bauern eine lokale, vielseitige, ökologische und trotzdem auskömmliche Landwirtschaft zu ermöglichen“. Ihr könnt Euch denken, dass wir uns ein anderes Ergebnis gewünscht hätten. Denn wenn wir die aktuelle Kalkulation von Mike und seiner Frau Daniela zugrunde legen, muss sich der Preis eines Abos verdoppeln, damit wir unsere Solawi solide weiter betreiben können. Dann kostet ein Anteil an der Gemüse-Ernte in der nächsten Saison 360 Euro bzw. 60 Euro im Monat.

Mit dieser Größenordnung liegen wir – beinahe erwartbar – im deutschlandweiten unteren Mittelfeld. Es war sicher ein Anfängerfehler, sich nicht mit der Tatsache beschäftigt zu haben, dass sich eine Solawi in Deutschland nicht mit 180€ pro Saison und AnteilseignerIn betreiben lässt. Andererseits haben wir eben auch gerade erst das erste komplette Wirtschaftsjahr hinter uns und unser Raketenstart von 0 auf 120 AbonnentInnen hat uns mit all seinen unmittelbaren Anforderungen auch wenig Zeit für Reflexion gelassen.
Abgesehen davon ist jede Solawi sowieso grundsätzlich anderes aufgestellt, so dass es schwierig ist, sich an direkten Vorbildern zu orientieren. Wie auch immer: Die ersten belastbaren Erfahrungswerte haben wir jetzt in der Hand. Wir sind überrascht und müssen nun auf eine recht harte Art daraus lernen.

Wir haben in der Folge einige Prozesse eingeleitet, die uns dabei helfen sollen, die Solawi auf ein gesundes Fundament zu heben. Wir bekommen Beratung von erfahrenen Solawi -Landwirten und Betriebs-Beratern, wir sind in engen konzeptionellen Austausch mit anderen Solawis in Stuttgart, Heidelberg und Freiburg gegangen, wir beziehen Rechts- und Steuerberatung in Bezug auf unsere Struktur. Der Austausch und die Beratung zeigen, dass wir beileibe nicht die einzige Solawi sind, die es nach dem ersten Kassensturz kräftig durcheinander gewirbelt hat – und selbst die Dimension der Fehleinschätzung, die ja weit außerhalb der Komfortzone liegt, ist keineswegs einzigartig. Die „GartenCoop“ aus Freiburg hat vier Jahre geplant, bevor sie in die erste Saison gegangen ist, und sie musste nach dem ersten Jahr ebenfalls die Preise verdoppeln. Unser neuer Prozessbegleiter und Landwirt Klaus Strüber berät rund zwanzig Solawis in ganz Deutschland und sieht uns mit unseren Preisbildungs-Problemen in bester Gesellschaft.

Den Preis unseres bisherigen Modells hatten wir auf der Basis von Common Sense bestimmt. Wir haben uns angeschaut, was eine bestimmte Menge Gemüse im Supermarkt und was es im Bioladen kostet und wo die gesunde Mitte liegen könnte. Wenn wir uns nun die vorliegende Kostenaufstellung ansehen, springt ins Auge, was makroökonomisch eigentlich evident ist: Wir können nicht mit einer industrialisierten konventionellen Landwirtschaft konkurrieren, und auch nicht mit einer industrialisierten Bio-Landwirtschaft, die ebenfalls auf Monokultur und globale Produktion setzt. Wir sind eine kleine alternative Bude, durchaus mit großen Zielen, die aber nicht in erster Linie ökonomischer Natur sind im Sinne von stetigem Wachstum und den sich daraus ergebenden Skaleneffekten. Wir erkennen jetzt auch wieder besser, dass wir in unserer Grundanlage ein komplexes politisches Projekt sind und kein auf Effizienz gebürsteter Betrieb, der zuverlässig preiswertes Gemüse in Spitzenqualität liefern kann.

Was also sind unsere politischen Ziele? Wir wollen das Kulturgut „kleinbäuerliches Wirtschaften“ erhalten, indem wir den letzten innerörtlichen Hof im Ort unterstützen. Wir wollen biologische Vielfalt hier in Weingarten. Wir wollen einen gesunden Boden. Wir wollen die Zyklen der Jahreszeiten wieder spüren. Wir wollen unseren kulinarischen Horizont erweitern. Wir wollen uns gegenseitig schlauer machen im Umgang mit spätsommerlichem Überfluss und spätwinterlichem Mangel. Wir wollen rund um diese Themen eine Gemeinschaft bilden, und das Modell Solawi beinhaltet diese Themen. Wir wollen wieder auf Tuchfühlung gehen mit der „landwirtschaftlichen Urproduktion“, für die unbedingt eine neue Form gefunden werden muss, wenn sie überleben soll. Wenn wir uns nicht mit Saat- und Ernterobotern, Monokulturen, Genmanipulation, Hybridisierung, Saatgutverarmung, Raubbau, chemischem Pflanzenschutz, Konzernoligarchie von Nestlé und Monsanto, Versteppung, Armut und Ausbeutung in den Ländern, aus denen die Menschen nun zu uns fliehen, zufrieden geben wollen. Vielleicht werden unsere Kinder es uns danken, dass wir hier einen Weg gesucht haben. Oder sie werden uns fragen, warum wir versäumt haben, das zu tun.

So schwer es uns fällt und so sehr uns bewusst ist, dass wir damit manchen AbonnentInnen vor den Kopf stoßen, halten wir aus der Steuergruppe den Schritt hin zu einer realistischen Bepreisung daher für richtig, wenn nicht heilsam. Unsere Solawi kommt damit ihrem Wesen als alternative Wirtschaftsform näher und hat eine Chance, sich dauerhaft gesund zu entwickeln. Mit dem Halten des jetzigen Preises oder auch nur einer graduellen Anpassung wäre das unmöglich, denn es würde sehr bald zu Frustration und Erschöpfung führen. Die Beratung hat uns in dieser Vermutung bestätigt.

In diesem Sinne bietet die aktuelle Krise auch eine echte Chance, nämlich dem Kern unseres Vorhabens wieder näher zu kommen. Dazu gehört neben der betriebswirtschaftlichen Seite auch die konzeptionelle Ebene. So haben wir in den letzten drei Saisons ein scheinbar statisches Abo-Modell angepriesen – so und so viele Sorten, kalkuliert auf den Bedarf einer Person. Das war einfach zu kommunizieren, aber es ist falsch. Die Wahrnehmung, ein „garantiertes“ Abo zu bekommen, hat für viel Verwirrung gesorgt. Mal quollen die Körbe über, mal konnte man den Boden doch sehr deutlich erkennen und fragte sich, ob denn da Leistung und Gegenleistung noch in einem vernünftigen Verhältnis stehen.
Ihr bekommt keine fest kontingentierte Bio-Kiste! Was Ihr wahrhaft und in Zukunft auch deutlich bekommt, ist ein ERNTEANTEIL. Diesen versteht man am Besten als Anteil an der Produktivität des Bauern auf der vorhandenen Fläche. Mike ist mit viel Einsatz dabei, Produktivität aufzubauen: Mit Hilfe von Folientunneln, Bewässerungsanlagen, Traktoren, Beratung, Erfahrung, der Akquise geeigneter Flächen etc. Diese Produktivität wird uns, abgesehen von den naturgegebenen Unwägbarkeiten, in jeder folgenden Saison eine größere Ausfallsicherheit, eine bessere Qualität und eine auch eine größere Menge Gemüse bescheren.

Wir als Steuergruppe haben in den ersten drei Saisons hart daran gearbeitet, Vertrauen in die Solawi aufzubauen und auch sehr viel Vertrauen von Euch zurückbekommen. Nun müsst Ihr selbst entscheiden, ob Ihr weiter dabei seid und das Projekt mittragen wollt. Diese Entscheidung wird am 23. Januar 2016 gefällt – an diesem Samstag findet eine „Bieterrunde“ statt, mit der das Gesamt-Produktionsbudget unserer Solawi für 2016 aufgestellt werden soll. Das geht so: Wir stellen ein Budget vor, das die Finanzierung des gesamten Gemüseanbaus sichert. Als Richtwert für einen Ernteanteil kann man die von Mike und Daniela ermittelten 60 Euro pro Monat annehmen. JedeR Mitbietende reicht dann den eigenen Beitrag zum Budget anonym ein, je nach den individuellen finanziellen Möglichkeiten. Manche können weniger beitragen, andere dafür mehr – in der Summe wird sich das hoffentlich ausgleichen, damit wir am Ende des Tages sagen können: Es geht weiter!
Bei der Bieterrunde entscheidet sich also der jeweils zu bezahlende Preis und zusammengenommen auch die Zukunft unserer Solawi. Wer weiter dabei sein will, muss also an diesem Termin unbedingt teilnehmen oder jemanden mit einer Vollmacht entsenden. Tragt Euch den 23. Januar 15 Uhr also dick in den Kalender ein. Details zur Veranstaltung folgen im neuen Jahr.

Wir hoffen – und wir sind zuversichtlich – dass die Gemeinschaft der Möhre aus dieser Krise gestärkt hervorgeht, auch wenn wir womöglich weniger werden. Umso mehr sind wir darauf angewiesen, die verbleibenden „ÜberzeugungstäterInnen“ als mitdenkende, gestaltende und konstruktive Kräfte in stürmischen Zeiten, aber auch als dauerhaft geistig und politisch Investierte zu gewinnen. Wir hoffen darauf und freuen uns, möglichst viele von Euch darunter zu finden und am 23. Januar begrüßen zu dürfen.

Wir wünschen Euch allen eine schöne Weihnachtszeit und einen guten Start in ein glückliches Jahr 2016!

Eure Steuergruppe